Sonntag, 20. Juli 2003

Lost In Music - Jazzfest Wiesen 2003 - Tag 4




Exklusiv für noize.cc:








Jazzfest Wiesen 2003 - Tag 4 (20.07.2003) (Rezension aus 2003)


Wie zugkräftig ist Jazz im Jahre 2003? Offenbar mehr denn je zuvor, wenn man beispielsweise die Besucherzahlen des renommierten Jazzfestivals von Montreux, dem Glastonbury des Jazz, betrachtet, denn dort wurde heuer mit 86.000 verkauften Karten ein neuer Publikumsrekord erzielt. Ein Blick auf das Festivalprogramm macht aber deutlich, dass die Massen weniger vom Jazz angelockt wurden als von nicht unbedingt diesem Genre zuzuordnenden Acts wie Herbert Grönemeyer, ZZ Top oder Radiohead. Auch in Wiesen ist man in den letzten Jahren vermehrt dazu übergegangen, dem Jazz seinen Puristenstatus zu nehmen und völlig genrefremde Bands mit ins Programm zu nehmen. Wenn auch leider Radiohead nicht bei der der mittlerweile 27. Auflage des dortigen Jazzfests aufspielten konnte speziell das Line-Up des zweiten, zum Leidwesen vieler ausverkaufte Festivaltages mit Moloko, Calexico & Co. überzeugen.
Ursprünglich hätten Hochkaräter wie Isaac Hayes, Gotan Project oder Skin auftreten sollen, die nach ihrer Absage großteils adäquat ersetzt wurden, wenn man Terence Trent'Darby ausklammert, dessen Auftritt am Samstag für viele nicht wirklich berauschend gewesen sein dürfte. In letzter Minute sagten auch die für den Sonntag angekündigten Mothers Finest ab, deren Sängerin Baby Jean Kennedy die Stimme verloren hatte (warum passiert das eigentlich nie österreichischen oder aus gegebenen Anlaß italienischen Politikern?) und für die The Black Hakawati aus Österreich als Ersatz aufgeboten wurden.

Wer wie der Schreiber dieser Zeilen am Sonntag erst gegen 14.30 das Festivalgelände betrat kann über deren davor bereits absolvierten Auftritt nichts berichten, wurde aber dafür mit den Klängen von Herbie Hancocks legendärem "Watermelon Man" empfangen. Interpretiert wurde dieser Klassiker vom Trio rund um den virtuosen Keyboarder Tibor Barkoczy und wo der aufspielt ist meist Louie Austen nicht weit und so war es auch diesmal. Austen eröffnete mit seinem Signature Tune "Music" und präsentierte sich in weiterer Folge als Crooner feinster Prägung und ließ nahezu keinen in seinem Repertoire befindlichen Pop- und Jazzstandards: aus. "I've Got You Under My Skin", "Fly Me To The Moon", "Summertime" "You Are The Sunshine Of My Life", "Sunny" und als Zugabe natürlich "My Way" sorgten möglicherweise bei so manchem jugendlichen Festivalbesucher für den Erstkontakt mit diesem Songmaterial, um das sie sonst möglicherweise einen weiten Bogen manchen würden. Natürlich gab es zwischendurch auch den Louie Austen zu hören, wie ihn die meisten Jazzkellerverweigerer oder Nicht-Hotel Marriot-Barthekenfrequentierer kennen, nämlich mit seinen Hits "Hoping" und "Amore" als auch einigen Kostproben aus seinem aktuellen Albums „Easy Love“. Dem Grundgedanken des Festival entsprechend waren diese Songs allerdings nicht mit den von Patrick Pulsinger programmierten Beats unterlegt, sondern erklangen im jazzigen Arrangement und paßten vorzüglich inmitten der zuvor erwähnten Standards.

Klassisch ging es auch weiter allerdings in einem etwas anderem Kontext. Von Soul II Soul dürfte der überwiegende Teil der Festivalbesucher vermutlich nur das obligate Hitfeuerwerk mit stilprägenden Clubklassikern wie "Keep On Moving", "Back To Life" oder "Get A Life" erwartet haben. Da dieser Auftritt aber unter der Bezeichung "Soul II Soul Sound System" lief gab es, wie der Begriff "Sound System" schon suggeriert, eine DJ-Show unter der Leitung von Soul II Soul-Urgestein Jazzy B. bei der von einem Rapper und einer Sängerin (die nicht ganz an die einstige Soul II Soul-Vocalistin Caron Wheeler heranreichte) unterstützt wurde, wobei allerdings deren Identität mangels aktueller Soul II Soul-Homepage vorerst nicht geklärt werden konnte.

Wenn auch dieser Gig vermutlich am Abend als Anheizer für die Stereo MC's gepaßt hätte, konnte man unter der Führung von Reiseleiter Jazzie B. eine stimmungsvolle und groovegeladene Zeitreise in die Epoche machen, als James Brown-Samples den Hip-Hop als auch den Dancefloor-Sektor diktierten, was bei so manchem sentimentale Erinnerungen weckte: Eingeleitet von den oftmals gesampleten Jackson 5-Klassikern "I Want You Back" und "ABC" bekam man etwa "It Takes Two" von Rob Base & DJ Ez Rock, "Apperantly Nothin" der Young Deciples, "Groove Is In The Heart" von Deee-Lite und Eric B. & Rakim unschlagbares "Paid In Full" zu hören, dann gings mit Cheryl Lynns "Got To Be Real" und Michael Jacksons "Don't Stop 'til You Get Enough" kurz in die Disco, mit "The Next Episode“ von Dr. Dre & Snoop Doggy Dog und Beyonce Knowles Version von 50 Cents "In Da Club" wagte man sich in die Neuzeit und für Sunsplash-Fanatiker gab Reggae/Dancehall-Lastiges von Beenie Man ("Who Am I"), Foxy Brown("Oh Yeah") und Ini Kamozee (" Here Comes The Hot Stepper"). Zwischendurch gab es gezählte vier echte Soul II Soul-Tracks, was doch etwas dürftig erscheint, wenn man bedenkt, daß die bislang veröffentlichten Soul II Soul-Alben zu recht den Namen "Club Classics" trugen und welche Bedeutung die Soul II Soul-Beats (insbesonders "Keep On Moving") um 1990 hatten, da ein beträchtlicher Teil aller damaligen Plattenveröffentlichung ohne ihnen nicht auszukommen schien.

Ganz andere Stimmung herrschte danach bei John Cale, mit dem nach Lou Reed innerhalb weniger Wochen ein zweites ehemaliges Velvet Underground in Österreich gastierte. Waren Cale Liveshows einst dadurch geprägt, daß unschuldige Hühner auf der Bühne ihr Leben lassen mußten, gab es für militante Tierschützer diesmal keinen Grund zum Einschreiten, denn seine Prioriäten in Sachen Bühenshow haben sich in Richtung Musikalität verschoben. So präsentierte er ohne große Posen und unnötigem Schnickschnack unter anderem die Titel seiner aktuellen EP "5 Tracks", älteres wie sein Neil Young-Cover "Do Not Gentle Into That Good Night" und auch experimentelles wie etwa eine schwerverdauliche Version von "Paris". An Velver Underground wurde mittels "Venus In Furs natürlich auch Tribut gezollt, wofür Cale zur elektrifizierten Violine griff.

Den vermutlich geringsten Bekanntheitsgrad aller an diesem Tag auftretenden Interpreten hatte vermutlich der knapp sechzigjährige Österreichdebutanten und Gitarristen Boz Scaggs, der in Österreich hauptsächlich Hörern des FM4-Vorgängersenders Blue Danube Radio ein Begriff sein dürfte, da hier manchmal seine Hits "Lido Shuffle" (1976) oder "Lowdown" (1976) liefen. Seither hat er sich mehr dem traditionellen Mainstreamjazz verschrieben, wobei sich sein Ensamble, allen voran Kenny G.-Klon Eric Crystal, großteils in ihrer Virtuosität verliefen. Hier trennte sich bei den Festivalbesuchern und besonders in Hinblick auf die wahren Jazzfans die Spreu vom Weizen, denn während manche die handwerklichen Fähigkeiten von Boz Scaggs und seinen Mitstreitern zu schätzen wußten und sich vor allem an einer jazzigen Version von "Lowdown"oder dem Fats Domino-Cover "Sick & Tired" erfreuten, wirkte dieser Auftritt für die meisten Festivalbesucher schlichtweg ermüdent, weshalb viele seine Musik als Muzak für Gespräche bzw. zum Lesen der Tageszeitung nutzen oder sich währendeessen in dem wie immer gut bestückten Gourmetbereich stärkten.

Die Zufuhr von Proteinen, Kohlehydraten usw. war auch notwendig bzw. empfehlenswert, denn der Auftritt der Stereo MC's war für alle Beteiligten sowohl vor als auch auf der Bühne überaus substanzraubend und Grund zum Mittanzen und -shaken liefert der Backkatalog von Rob Birch und Co. bekanntlich mehr als genug. Wer in den letzten Jahren bei einem Stereo MCs-Konzert gewesen ist weiß natürlich, daß hier nicht das obligate Greatest Hits-Programm von "Lost In Music" über "Connected" bis hin zu "Deep Down & Dirty" nicht lustlos heruntergenudelt wird, sondern voller Power und unwiderstehlichem Groove steckt, wofür in erster Linie Rob Birch energetische Performance verantwortlich ist und die beiden Begleitsängerinnen nicht nur optisch ihren Teil beitragen.

Das Ende dieser energiegeladenen Show war auch für den überwiegenden Teil der Festivalbesucher auch gleichzeitig das Zeichen zum Aufbruch zur Heimreise, denn für viele waren die Stereo MCs der Hauptgrund, an diesem Tag nach Wiesen zu pilgern und wer auch immer danach aufspielen würde könnte deren fulminanten Gig ohnehin nicht toppen. Dazu kam noch, daß zahlreiche Berufstätige, die sich nicht den darauffolgenden Montag freinehmen konnten, notgedrungen den Headliner des Abends, über den offenbar nur eine Minderheit bescheid wußte ("Pretenders, des san doch de, wos nur so oide hodan spün") verzichteten und andere den Titel des Pretenders-Hits "I Go To Sleep" wortlich genommen haben dürften.

So kam es, daß Chrissie Hynde & Co. vor einer für einen Festivaltag-Hauptact äußerst mageren Zuschauerkulisse aufspielten, die vielleicht gerade mal das Wiener Flex zur Hälfte gefüllt hätte. Chrissie Hyndes anfangs gestellte Frage "Do you wanna hear rock or more of the ballads?" wurde nicht weiter überraschend mit einem eindeutigem Votum für rockige Klänge bedacht. Wer nun glaubte, das Konzert würde den Charakter einer peinlichen und oftmals die Fans deprimierenden Oldies-Revue haben, wie man sie von so mancher einst gefeierten Band kennt, deren verbliebene bzw. überlebende Mitglieder nunmehr als Schatten ihrer selbst durch die Lande tingeln, wurde eines besseren belehrt. Offenbar dadurch angestachelt, die relativ wenigen, aber umso enthusiastischen Fans eine unvergessliche Show zu bieten legte sich die Band kräftig ins Zeug und knallte ihnen Klassiker wie „Message Of Love“, "Back On The Chain Gang" oder "Middle Of The Road" und auch lange nicht mehr gehörtes wie „Akron, Ohio“ um die Ohren. Zwischendurch durften auch ein paar Tracks vom aktuellen Album „Loose Screw“ wie etwa "You Know Who Your Friends Are" nicht fehlen als auch Balladen wie das von Kinks-Boss Ray Davies, dem einstigen Lebensgefährten von Chrissie Hynde geschriebene "I Go To Sleep", den sie mit den Worten "This is a song by one of the greatest english songwriters" würdigte. Die Spielfreude der Band ging so weit, dass sich einmal der Schlagzeuger und die restlichen Bandmitglieder nicht einig waren, welcher Song als nächster gespielt werden sollte und deshalb "Don't Get Me Wrong" mit dem Shufflerhythmus von "Bad Boys Get Spanked" eingeleitet wurde, was vom Bassisten mit dem lapidaren Kommentar "Oops, there's some miscommunication" bedacht wurde. Apropos Schlagzeuger, dieser spielte hinter einer Glaskuppel spielte, vermutlich aber nicht aufgrund von Schutzmaßnahmen vor einem eventuellen Schußattentat, sondern um seine schlagwerkerischen Fähigkeiten besser ins Rampenlicht zu rücken.

Ein mit „I Stand By You“ und „Brass In Pocket“ garniertes Zugabenpaket beendete nach knappen zwei Stunden ein Konzert, dass den Status der Pretenders als Headliner absolut rechtfertigte und als einzigen Wermutstropfen den schwachen Besuch hatte. Sicher wäre es für die Pretenders bzw. Soul II Soul günstiger gewesen, der Ablauf dieses abschließenden Festivaltages wäre in der Reihenfolge The Black Hakawati - Louie Austen - John Cale - Pretenders - Soul II Soul - Stereo MCs erfolgt, aber dann wäre das Verdammt-ich-muß-am-Montag-arbeiten-Problem noch mehr zum Zug gekommen, was sich dann möglicherweise wieder negativ auf den Kartenverkauf ausgewirkt hätte. Wie auch immer, das Jazzfest Wiesen war wie immer eine Reise wert und wer sich bislang dem besonderen Flair von Wiesen entzogen hat, hat beim „Two Days A Week“ ausreichend Gelegenheit, versäumtes nachzuholen.




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